Dr. F.W. Zeylmans van Emmichoven: "Wie lebt die Seele in der Farbenwelt?"

[Een opstel uit 1940 voor het tijdschrift van Max Gümbel Seiling]

"Die Farben sind Taten des Lichts - Taten und Leiden." Diese Worte von Goethe sind nicht an erster Stelle dichterisch oder symbolisch aufzufassen, sondern vor allem wissenschaftlich und real. Tausende Male hat jeder Mensch die Gelegenheit, ihre Wahrheit zu schauen, wenn er nur das "offenbare Geheimnis" zu sehen bereit ist.
Ohne Licht keine Farbe. An dem Licht, durch das Licht wurde die Farbe geboren. Aber ohne Finsternis kann eine Farbe auch nicht bestehen. Bei immerfort zunehmender Licht erbleichen die Farbe wie die Sterne vor der Sonne. Man kann das experimentell aufzeigen, wenn man eine Anzahl starker Farben auf ein Blatt Papier bringt und dieses mit einer kräftiger werdende Lampe bescheint; die Farben erbleichen dann immer mehr und werden schliesslich unsichtbar. Jeder Maler weiss, dass die Farben der Blumen und der Vegetation, von Wäldern und Feldern, im grellen Sonnenlicht, nicht am schönsten sind. Ein gemässigtes Licht, das heisst: eine rechte Misschung von Licht und Finsternis bildet.
Licht und Finsternis, einem bestimmten Verhältnis wirksam,sind vonnöten für das Entstehen der Farben: die schaffende Tat des Lichtes und der leidende Widerstand der Finsternis, die das Licht auffängt und verarbeitet - "Taten und Leiden".
Die Farben gehören also zu einem Gebiet, das sich zwischen zwei anderen Gebieten befindet. In diesem Zwischengebiet entfalten sie sich, und zwar so, dass zur Lichtseite das Gelb, zur Seite der Finsternis das Blau sich bildet, so wie Goethe es in seiner "Farbenlehre" beschreibt. - Gelb und Blau sind zu betrachten als die farbigen Repräsentanten von Licht und Finsternis. Im Grün wird das Gleichgewicht zwischen beide erreicht.
Dem Grün gegenüber steht Purpur. Diese Farbe wird von Goethe als das eigentliche Rot beschrieben, als eine Farbe, die im gewöhnlichen Spektrum fehlt, die aber in dem sogenanten "umgekehrten Spektrum" in der Mitte steht. Das gewöhnliche Spektrum wird bekanntlich gebildet, wenn ein Lichtstrahl durch einen engen Spalt und darauf durch ein Prisma geführt wird. Das umgekehrte Spektrum entsteht, wenn sich an der Stelle des Spaltes ein dünner Stab befindet, an dessen beiden Seiten das Licht fällt. Das Spektrum wird dann nicht, wie beim ersten Fall: rot, orange, gelb, grün, blau, indigo, violett - sondern: gelb, orange, rot, purpur, violett, indigo, blau.
Dieses Purpur nun ist das eigentlich wirksame Prinzip in der Farbenwelt. Es bewirkt die Verstärkung - das was Goethe "Steigerung" nennt - von Gelb zu Orange und Orangerot auf der einen Seite und die von Blau zu Blau-Violett (Indigo) und Violett auf der anderen Seite. In beide Fällen wird die Wirkung und die Kraft der Farben intensiver.
Auch die Menschenseele, die die Farben wahrnemend erlebt, befindet sich in einem Gebiet zwischen zwei anderen; so wie die Farben zwischen Licht und Finsternis geboren werden, so die Seele zwischen Geist und Körper.
Aus einem vorgeburtlichen Zustand steigt die Seele zur Erde nieder. Wo sie zuvor in dem Reinen Geisteslicht lebte, betritt sie nun die finstere Behausung des auf Erden gebildeten Körpers. Am Widerstand erwacht das Bewusstsein und entfaltet sich in der Seele als ein inneres Licht. Indem die Seele nun mehr und mehr aufwacht, erfährt sie in der Welt Tausende und Abertausende von Empfindungen. Das Gebiet der Grautöne, das sich zwischen Weiss und Schwarz erstreckt, gehört ebensosehr zur Seele wie das Gebiet der Farben. Aber auch die Töne und Klänge, die Düfte, die Formen, die Stufen von hart und weich, von roh und glatt und noch viele andere Empfindungen gehören dazu.
Die Welt der Seele ist die Welt der Qualitäten, der Kategorien. So ist die Seele mit den Farben innig verbunden. Ja - vielleicht noch am meisten mit den Farben, weil diese uns den ganzen Tag umgeben. Die Verbindung mit den Tönen und Klängen ist allerdings eine noch tiefere, weil das Erlebnis davon unser Wesen noch stärker ergreift. Aber die allumfassende Gegenwart der Farben während des ganzen Tages führt zu einer mehr bleibenden, dauernden Wirkung.
Die Menschenseele verbindet sich mit ihrer Umgebung und zieht sich wieder daraus zurück, gleichsam atmend. Der Atemprozess des Körpers, mit seiner ein- und ausströmenden Luft, ist nur das äussere Bild von tief in der Seele wirkenden Kräften. Die Seele hat einen inneren Drang, sich mit der Welt, mit dem ganzen Weltall, aus dem sie geboren wurde, wieder zu vereinigen. Aber eine solche Wiedervereinigung ist erst nach dem Tode möglich. Darum kehrt die Seele immer wieder, nach jeder Begegnung mit den Offenbarungen der Welt, in die Behausung des Körperszurück. Fortwährend wiederholt sich dieser Prozess wie ein mächtiges Atmen der Seele, das Mensch und Welt verbindet und trennt.
So atmet die Seele auch in den Farben und tritt damit in die Raumesoffenbarung des Weltalls. Sie tritt durch die Farben in den Weltenraum ein und verlässt ihn wieder auf gleichem Wege. Blau ist die Farbe des Himmelsgewölbes, das sich über den Menschen wölbt und die Raumesgrenze bezeichnet. Aus dem Himmelsblau strahlt das goldene Sonnenlicht durch die Welt. Im Dunkel der Nacht ist dieses Blau tief und unergründlich; aber die funkelnden, glitzernden gelben, rötlich-gelben und grün-gelben Sterne senden ihre Tausende von Strahlen quer durch es hindurch.
In dem goldenen Tageslicht erscheinen die Dinge der Welt, die Steine und Kristalle, die Pflanzen und Tiere, die Menschen, alles Geschaffene - in einer endlosen Vielheit von Farben und Farbtönen. Das Sonnenlicht macht sie sichtbar für uns und bringt sie an uns heran.
Da wo die Dinge am Horizont fast verschwinden, sehen wir sie in einem blauen oder violetten Glanz. Vor allem bei den Bergen, die - gross und mächtig - auf weiten Abstand noch deutlich sichtbar sind, ist dieses Phänomen am deutlichsten. Aber auch die kleinen Gegenstände haben einen blauen oder violetten Ton, wenn die Dichtheit der Atmosphäre sie von uns wegführt. So breitet die Seele sich mit blauer oder violetter Farbe in die Welt aus, während sie die Dinge durch die gelben und rot-gelben Farben zu sich hingetragen bekommt. Blau weicht, Gelb kommt auf uns zu.
Im Grün aber erleben wir ein Gleichgewicht, eine Ruhepause zwischen ein- und ausatmen.
Auch im purpur hält sich die atmende Seele einen Augenblick zusammen - auch hier eine Pause, aber nun voll Spannung und Aktivität.
Atmend bewegt die Seele sich in der Welt der Farben, innig verwandt mit ihrem Wesen und ihrer Offenbarung

Emanuel Zeylmans, Willem Zeylmans van Emmichoven: Ein Pionier der Anthroposophie, Arlesheim 1979
blz.: 215-218.