Philipp Otto Runge: brief aan Ludwig Tieck
[Dresden, april 1803]
Ich habe nun den "Abend" ganz anders gezeichnet, und umgearbeitet, so dass er mir selbst auch ganz recht ist; die Figur
in der "Nacht" habe ich mir selbst auch ganz fertig und komme so in Hinsicht der Bilder völlig zu Stande mit dem, was ich
will; wie es denn auch bestimmt fühle, wie die Rahmen notwendig sein und werden müssen, so ist doch etwas Fatales mir darin
vorgeschoben, dass ich durch verschiedene kleine Sachen und die Zeit abgehalten werde, recht ungeniert zu arbeiten und alles
herauszubringen. Ich habe gedacht, dass ein Brief von Ihnen mir sehr gut tun würde. Wie ich jetzt sehe, dass sich meine
Gedanken mehr auf einen Punkt konzentrieren, als da ich die Bilder anfing, so werde ich auch den Zusammenhang reiner und
deutlicher, und die Gestalten, wie sie sein müssen, notwendiger gewahr.
Die sogenante reine oder abstracte Mathematik kommt mir immer mehr wie die reine Dummheit vor oder wie die
Wissenschaft des Nichts; es ist das, was das reine oder abstracte Schwarz oder die Abwesenheit aller Farbe ist. Es ist dem
Menschen unmöglich, den mathematischen Punkt oder die mathematische Linie auszusprechen, ja er kann sie nicht denken mit
seinen Sinnen, bloss mit der kalten mathematischen Vernunft. In einer Kugel, wo der Aschse eine mathematische Linie wäre
und die sich dann um ihre Achse drehte, müsste bei allem Drehen doch die mathematische Linie stehen; will man sich das
sinnlich denken so, denke man sich die Linie noch so dünn und sie geht doch noch mit rund, so ist es noch immer nicht die
mathematische, wir können diese nicht denken, viel weniger aussprechen; daher auch alle Erklärungen und Bemühungen, recht
weitläufig das Wesen des mathematischen Punkts auszusprechen; je mehr darüber gesprochen wird, ein je grösserer Klecks wird
daraus, der Punkt kann nur einmal in unsre Ahnung kommen, wie ein Augenblick, denn er ist das, wo alle Gedanken aufhören,
es ist wieder das, was das Schwarze ist, die vernichtung. So ist alle Bemühung, sich die Entwickelung der Linie aus diesem
Punkt zu denken, vergebens, die Linie ist dasselbe, was der Punkt ist, nur länger angesehen; die Fläche ist nur gar der
Teufel. Der ausgesprochene Punkt ist das, was von Gott ausgegangen ist, das Wort, alle Dinge sind durch dasselbige gemacht
und ohne dasselbige ist nichts gemacht, was gemacht ist. Das ausgesprochene Licht und Leben teilt sich schon durchs
Aussprechen in drei, in der Mathematik, in Farben, und in Worten; in der Musik fliessen Linien, Worte und Farben zusammen;
so sind der Wille, die Liebe und die Sehnsucht im Glauben vereinigt: das sind die reinen Bestandteile des Menschen, wie ihn
Gott zuerst erschaffen hat. Da kam durch den Sündenfall das Gute und Böse in die Welt und durch ihre vermischung die
Leidenschaften, innerlich gut und äuserlich böse; wer die inneren versteht, versteht die äusseren; rein ist nichts, denn
die Erde ist aus dem Zirkel in die Ekliptik geworfen.
Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde, und die Erde war wüste und leer und Finsternis auf der Tiefe, und der Geist
Gottes schwebte auf dem Wasser. Und Gott sprach: Es werde Licht! und Gott sahe, dass das Licht gut war; da ward aus Abend
und Morgen der erste Tag.

Das ist die erste Figur der Schöpfung. Die 6 ist nach dem Sündenfall nicht verstanden und wird nicht verstanden, bis
der Tag kommt, wo alles zum Licht zurückkehrt, das ist der siebente Tag. - Die Welt hat sich
gesondert in Ich und Du, in Zirkel und Linie, da ist die 3 in die Welt gekommen, und durch Gutes und Böses die 5; in 7 ist
alles wieder vereinigt: das ist das Allerheiligste; der Punkt hat sich ausgebreitet im Zirkel. - "Und die Erde war wüste und
leer, und Gott sprach: Es werde Licht! - Im Anfang war das Wort - dasselbige war im Anfang bei Gott - alle Dinge sind durch
dasselbige gemacht, das gemacht ist; - in ihm war das Leben war das Licht der Menschen, und das Licht scheinet in die
Finsternis, und die Finsternis haben's nicht begriffen": - das sind die äusseren Zirkelbogen und die Wissenschaften, das
Böse; auf den Strahlen leben wir alle; - einer geht zur Rechten, der andere zur Linken: der zur Rechten führt zum
Mittelpunkt, der zur zur Linken von ihm. - Im Gemüt fasst der Mensch die Strahlen zusammen, in der Wissenschaft fliegen sie
auseinander; die Strahlen spalten sich, der Mensch verliert sich in dem ungeheuren Raum, die Unschuld des Gemüts, wovon er
ausgegangen, verliert sich wie ein Sandkorn, und er meint, die Grösse der Schöpfung zu verstehen, indem er sich vernichtet.
"Die Pforte ist eng, und der Weg ist breit, der zur Verdammnis abführt, und viel sind ihrer, die darauf wandeln; aber die
Pforte ist eng, und der Weg ist schmal, der zum Leben führt, und wenig ist ihrer, die ihn finden" - das ist das Grausende
des Sternhimmels: der Mond ist der Tröster, der heilige Geist.
Diese Figur, die sich selbst macht, ist das Gemüt des Menschen; wer kann sie ganz verstehen? In der Natur ist sie
nicht, denn die Natur ist von ihrer Bahn gewichen durch die Sünde; das Ich und Du wird nur im Tode verbunden; daraus besteht
der Mensch: die Liebe tritt in die Mitte zwischen Sehnsucht und Willen, zwischen Mann und Weib.
Im Paradies war die Ehe die Sünde, - nun ist die Ehe notwendig, bis die Zeit da ist, wo es der Mensch mehr erkennen
wird, was es heisst: nicht heiraten ist besser. - Die Liebe ist das Licht und die Verbindung des Gemüts und der Materie;
die Sehsucht wäre ohne Hoffnung gewesen, wenn der Tod nicht in die Welt gekommen wäre, nun muss der Mensch den Acker bauen,
bis er wieder zur Erde wird, davon er genommen ist.
Zur Ruhe kommt keiner in der Welt bis zum Tode; ganz sprechen wir's nie aus; das Völlige, was wir aussprechen würden,
wäre die Regel oder das Nichts. Dicht daherum liegt die Schönheit, - wer dadurch sein Leben zu erhalten sucht, der wird's
verlieren; wer in Liebe und Hoffnung mit reinem Gewissen immer näher dringt, der wird's gewinnen, dennder resigniert auf
dieses Leben. -
Im Schweisse deines Angesichts sollst du dein Brot essen. Kann der Geist des Menschen es ergründen, was das Eine ist,
so überwindet er die Welt und den Körper; - wer es versuchen will, der versuche es: zum Besten und zur Arbeit des Lebens
wird's ihn immer führen.
Bittet, so wird euch gegeben; suchet, so werdet ihr finden; klopfet an, so wird euch aufgetan.
Wer in der Liebe und im Glauben bittet, dem wird Er den rechten Weg der Wahrheit zum Gemüte geben. - Wer da suchet
Sein Licht und Seine Zahl im Spiegel der äussern Welt durch die Liebe, der wird den Zusammenhang finden und die Zeit
verstehen, - und wer im Glauben, in der Liebe und in der Wahrheit anklopfet bei den Menschen, dem wird aufgetan.
Adieu, Lieber, sehen Sie dies als Bruchstücke an, die ich in mir zu verbinden suche, und schreiben Sie bald.
Philipp Otto Runge, Farbenkugel: Konstruktion des Verhältnisses aller Mischungen der Farben zueinander und ihrer vollständigen Affinität [1810], Keulen 1999, blz.: 46/50 .
Philipp Otto Runge: kopergravures "Der Abend" en "Die Nacht"; beide: 2de oplage 1807, 71,2x47,5 cm.