Philipp Otto Runge: brief aan J.W. von Goethe
[Wolgast, 3 juli 1806]
Philipp Otto Runge: zelfportret, 1806
Nach einer kleinen Wanderung, die ich durch unsere anmutige Insel Rüngen gemacht hatte, wo der stille Ernst der Meeres
von den freundlichen Halbinsel und Tälern, Hügeln und Felsen auf mannigfaltige Art unterbrochen wird, fand ich zu dem
freundlichen Willkommen der Meinigen auch noch Ihren werten Brief; und es ist eine grosse Beruhigung für mich, meinen
herzlichen Wunsch in Erfüllung gehen zu sehen, dass meine Arbeiten doch auf irgendeine Art ansprechen möchten. Ich empfinde
es sehr, wie sie der Kunst wünschen, liegt, würdigen; und es würde ebenso albern sein, Ihnen meine Ursachen, warum ich so
arbeite, zu sagen, als wenn ich bereden wollte, die meinige wäre die rechte.-
Wenn die Praktik für jeden mit grossen Schwiericgkeiten verbunden ist, so ist es in unsern Zeiten im höchsten Grade
für den, der in einem Alter, wo der Verstand schon eine grosse Oberhand erlangt hat, erst anfängt, sich in den Anfangsgründen
zu üben; es wird ihm unmöglich, ohne zu Grunde zu gehen, aus seiner Individualität heraus sich in ein allgemeines Bestreben
zu versetzen.-
Derjenige, der, indem er sich in die unendliche Fülle von Leben, die um ihn ausgebreitet ist, verliert und
unwiderstehlich dadurch zum Nachbilden angereitzt wird, sich von dem Totaleindrucke ebenso gewaltig ergriffen fült, wird
gewiss ebenso, wie er in das Charakteristische der Einzelheiten eingeht, auch in die Verhältnisse, die Natur und die Kräfte
der grossen Massen einzudringen suchen. Wer in dem beständigen Gefühl, wie alles bis ins kleinste lebendig ist und
wechselweise wirkt, die grossen Massen betrachtet, kann solche nicht ohne eine besondere konnexion oder Verwandtschaft sich
denken, noch viel weniger sie darstellen, ohne sich auf die Grundursachen einzulassen: und tut er dies, so kann er nicht
eher wieder zu der ersten Freiheit gelangen, als bis er sich gewissermassen bis auf den reinen Grund durchgearbeitet hat.
Um es deutlicher zu machen, wie ich es meine: ich glaube, dass die alten deutschen Künstler, wenn sie etwas von der
Form gewusst hätten, die Unmittelbarkeit und Natürlichkeit des Ausdrucks in ihren Figuren würden verloren haben, bis sie in
dieser Wissenschaft einen gewissen Grad erlangt hätten.-
Es hat manchen Menschen gegeben, der aus freier Faust Brücken und Hängewerke und gar künstliche Sachen gebauet hat. Es
geht auch wohl eine Zeitlang; wann er aber zu einer gewissen Höhe kommt und von selbst auf mathematische Schlüsse verfällt,
so ist sein ganzes Talent fort, er arbeitete sich denn durch die Wissenschaft hindurch wieder in die Freiheit hinein. So ist
es mir unmöglich gewesen, siet ich zuerst mich über die besonderen Erscheinungen bei der Mischung der drei Farben
verwunderte, mich zu beruhigen, bis ich ein gewisses Bild von der ganzen Farbenwelt hatte, dass gross genug wäre, um alle
Verwandlungen und Erscheinungen in sich zu schliessen.
Es ist ein sehr natürlicher Gedanke für einen Maler, wenn er zu wissen begehrt, indem er sein schöne Gegend sieht oder
auf irgendeine Art von einem Effekt in der Natur angesprochen wird, aus welchen Stoffen gemischt dieser Effekt wiederzugeben
wäre? Dies hat mich wenigstens angetrieben, die Eigenheiten der Farben zu studieren, und ob es möglich wäre, so tief
einzudringen in ihre Kräfte, damit es mir deutlich würde, was sie leisten oder was durch sie gewirkt wird, und was auf sie
wirkt.-
Ich hoffe, dass Sie mit Schonung einen Versuch ansehen, den ich bloss aufschreibe, um Ihnen meine Ansicht deutlich zu
machen, die, wie ich doch glaube, sich praktisch nur ganz auszusprechen vermag. Indes denke ich nicht, dass es für die
Malerei unnütz ist oder nur entbehrt werden kann, die Farben von dieser Seite anzusehen; auch wird diese Ansicht den
optischen Versuchen, etwas Vollständiges über die Farben zu erfahren, weder widersprechen noch sie unnötig machen. Auch
bitte ich, da ich Ihnen keine unumstösslichen Beweise, die auf eine vollständige Erfahrung begründet sein müssen, vorlegen
kann, dass Sie auf Ihr eigenes Gefühl sich reduzieren mögen, um zu verstehen, wie ich meine, dass ein Maler mit keinen
anderen Elementen zu tun hat als mit denen, die Sie hier angegeben finden:
1. Drei Farben, Gelb, Rot und Blau, gibt es bekanntlich nur. Wenn wir diese in ihrer ganzen kraft annehmen und stellen wir uns als in einem Zirkel begrentzt vor, so bilden sich aus diesen drei Uebergänge, Orange, Violett und Grün (ich heisse alles Orange, was zwischen Gelb und Rot fällt oder was vom Gelb aus sich nach dem Roten, oder umgekehrt, hinneigt), und diese sind in ihrer mittleren Stellung am brillantesten und die reinen Mischungen der Farben.

2. Wenn mann sich ein bläuliches Orange, ein rötliches Grün, ein gelbliches Violett denken will, so wird einem zumute wie bei einem südwestlichen Nordwinde usw. Wie sich aber ein warmes Violett und ähnliche Natureffekte erklären lassen, werden wir im Verfolge vielleicht sehen.
3. Zwei reine Farben, wie Gelb und Rot, geben eine reine Mischung: Orange. Wenn mann aber zu solcher Blau mischt, so wird sie beschmutzt, also dass, wenn es zu gleichen Teilen geschieht, alle Farbe in ein unscheinendes Grau aufgehoben ist. Zwei reine Farben lassen sich mischen; zwei Mittelfarben aber heben sich einander auf oder beschmutzen sich, weil ein Teil von der dritten Farbe hinzugekommen. - Wenn die drei reinen Farben sich einander aufheben in Grau, so tun die drei Mischungen, Orange, Violett und Grün, dasselbe in ihrer mittleren Stellung, weil die drei Farben wieder gleich stark darin sind. Wie nun in diesem ganzen Kreise nur die reinen Uebergänge der drei Farben liegen und sie durch Mischung aller nur den Zusatz von Grau erhalten, so liegt ausser ihnen zur grösseren Vervielfältigung noch Weiss und Schwarz.
4. Weiss macht durch seine Beimischung alle Farben matter, und wenn sie gleich heller werden, so verlieren sie doch Klarheit und Feuer.
5. Schwarz macht alle Farben schmutzig, und wenn es solche gleich dunkler macht, so verlieren sie doch ebensowohl ihre Reinheit und Klarheit.
6. Weiss uns Schwarz miteinander gemischt gibt Grau.
7. Wir finden jedoch bald, dass in dem Umfang der drei Farben nebst Weiss und Schwarz der durch unsere Augen empfunden Eindruck der Natur in seinen Elementen nicht erschöpft ist. Da Weiss die Farben matt, und Schwartz sie schmutzig macht, werden wir daher geneigt, noch ausser diesen ein Hell und Dunkel anzunehmen. Die folgenden Betrachtungen werden uns zeigen, inwiefern sich hieran zu halten ist.
8. Es ist in der Natur ausser dem bisher angedeuteten Unterschied vin(?) Heller und Dunkler in den reinen Farben noch ein andrer wichtiger und auffallender. Wenn wir z.B. in einer Helligkeit und Reinheit Rotes Tuch, Papier, Taft, Atlas oder Samt, das Rote des Abendrots oder rotes durchsichtiges Glas nehmen, so ist in diesem allen noch ein Unterschied, der in der Durchsichtigkeit oder Undurchsichtigkeit der Materie liegt.
9. Wenn wir die drei undurchsichtigen Farben, Rot, Blau und Gelb, zusammen mischen, so entsteht ein Grau, welches ebenso aus Weiss und Schwarz gemischt werden kann.
10. Mischt man die drei Farben durchsichtig also, dass keine überwiegend ist, so erhält man eine Dunkelheit, die durch keine von den andern Teilen hervorgebracht werden kann.
11. Weiss sowohl als Schwarz sind beide undurchsichtig oder körperlich. Man darf sich an dem Ausdruck: "weisses" Glas nicht stossen, womit man klares meint. Weisses Wasser wird man sich nicht denken können, das rein ist, so wenig wie klare Milch. Wenn das Schwarze bloss dunkel machte, so könnte es wohl klar sein; da es aber schmutzt, so kann es solches nicht.
12. Die undurchsichtigen Farben stehen zwischen dem Weissen und Schwarzen; sie können nie so hell wie Weiss und nie so dunkel wie Schwarz sein.
13. Die durchsichtigen Farben sind in ihrer Erleuchtung wie in ihrer Dunkelheit grenzenlos, wie Feuer und Wasser als ihre Höhe und ihre Tiefe angesehen werden können.
14.Das Produkt der drei undurchsichtigen Farben, Grau, kann durch das Licht nicht wieder zu einer Reinheit kommen, noch durch eine Mischung dazu gebracht werden; es verbleicht entweder zu Weiss oder verkohlt sich zu Schwarz.
15. Drei Stücke Glas von den drei reinen durchsichtigen Farben würden, aufeinandergelegt, eine Dunkelheit hervorbringen, die tiefer wäre als jede Farbe einzeln. Nämlich so: drei durchsichtige Farben zusammen geben eine farblose Dunkelheit, die tiefer ist als irgendeine von den Farben. Gelb ist z.B. die hellste und leuchtendste unter den drei Farben, und doch, wenn mann zu ganz dunklem Violett so viel Gelb mischt, bis sie sich einander aufheben, so ist die Dunkelheit in hohem Grade verstärkt.
16. Wenn man ein dunkles durchsichtiges Glas, wie es allenfalls bei den optischen Gläsern ist, nimmt und von der halben Dicke eine polierte Steinkohle und legt beide auf einen weissen Grund, so wird das Glas heller erscheinen. Verdoppelt man aber beide, so muss die Steinkohle stillestehen wegen der Undurchsichtigkeit, das Glas wird aber bis ins Unendliche sich verdunkeln, obwohl zuletzt für unsere Augen nicht mehr sichtbar. Eine solche Dunkelheit könnte ebensowohl auch die einzelnen durchsichtigen Farben erreichen, so dass Schwarz dagegen nur wie ein schmutziger Fleck erscheint.
17. Wenn wir ein durchsichtiges Produkt der drei durchsichtigen Farben verdünnen und Licht durchscheinen lassen, so wird es auch eine Art Grau geben, die aber sehr verschieden von der Mischung der drei undurchsichtigen Farben sein wird.
18. Die Helligkeit an einem klaren Himmel bei Sonnenaufgang, dicht um die Sonne herum oder von der Sonne her, kann so gross sein, dass wir sie kaum ertragen können. Wenn wir nun von dieser ort vorkommenden farblosen klarheit als dem Produkt der drei Farben auf diese schliessen wollten, so würden diese so hell sein müssen und so sehr über unswere Kräfte weggerückt, dass sie für uns dasselbe Geheimnis bleiben wie die in der Dunkelheit versunkenen.
19. Nun merken wir aber auch, dass die Helligkeit oder Dunkelheit nicht in den Vergleich oder das Verhältnis zu den durchsichtigen Farben zu setzen sei wie Schwarz und Weiss zu den undurchsichtigen. Sie ist vielmehr eine Eigenschaft und eins mit der Klarheit und mit der Farbe. Man stelle sich einen reinen Rubin vor, so dick oder so dünn man will, so ist das Rot, welches hell oder dunkel wird, je nachdem es vom Licht erweckt oder verlassen wird. Das Licht entzündet das Produkt dieser Farbe natürlich ebenso in seiner Tiefe und erhebt es zu einer leuchtenden Klarheit, die jede Farbe durchscheinen lässt. Diese Erleuchtung, deren sie fähig ist, indem das Licht sie zu immer höherem Brand entzündet, macht, dass sie oft unbemerkt um uns wogt und die Gegenstände in tausend Verwandlungen zeigt, die durch einer einfache Mischung unmöglich wären, und alles in seiner Klarheit läst und sie noch erhöht. So können wir über die gleichgültigsten Gegenstände oft einen Reiz verbreitet sehen, der meistens mehr in der Erleuchtung der zwischen uns und dem Gegenstände befindlichen luft liegt als in der Beleuchtung seiner Formen.
20. Das Verhältnis des Lichts zur durchsichtigen Farbe ist, wenn man sich darin vertieft, unendlich reizend, und das Entzünden der Farben und das Verschwimmen ineinander und Wiederentstehen und Verschwinden ist wie das Odemholen in grossen Pausen von Ewigkeit zu Ewigkeit, vom höchsten Licht bis in die einsame und ewige Stille in den allertiefsten Tönen.
21.Die undurchsichtigen Farben stehen wie Erdenblumen dagegen, die es nicht wagen, sich mit dem Himmel zu messen, und doch mit der Schwachheit von der einen Seite, dem Weissen, und dem Bösen, dem Schwarzen, von der andern zu tun haben.
22. Diese sind aber grade fähig, wenn sie nicht mit Weiss noch Schwarz vermischen, sondern dün darüber gezogen werden, so anmutige Variationen und so natürliche Effekte hervorzubringen, dass sich an ihnen gerade der praktische Gebrauch der Ideen halten muss und die durchsichtigen am Ende nur wie Geister ihr Spiel darüber haben und nur dienen, um sie zu heben und zu erhöhen in ihre Kraft.
Der feste Glaube an eine bestimmte geistige Verbindung in den Elementen kann dem Maler zuletzt einen Trost und eine
Heiterkeit mitteilen, die er auf keine andre Art zu erlangen im Stande ist; da sein eignes Leben sich so in seiner Arbeit
verliert und Materie, Mittel und Ziel in eins zuletzt in ihm eine Vollendung hervorbringt, die gewiss durch ein stets
fliessiges und treues Bestreben hervorgebracht werden muss, so dass es auch auf andre nicht ohne wohltätige Wirkung bleiben
kann.
Wenn ich die Stoffe, womit ich arbeite, betrachte und ich halte sie an den Masstab dieser Qualitäten, so weiss ich
bestimmt, wo und wie ich sie anwenden kann, da kein Stoff, den wir verarbeiten, ganz rein ist. Ich kann mich hier nicht über
die Praktik ausbreiten, weil es erstlich zu weitläufig wäre, auch ich bloss im Sinne gehabt habe, Ihnen den Standpunkt zu
zeigen, von welchen aus ich die Farben betrachtete; ich will es auch gerne zugeben, dass noch viel Hinkendes darin ist; Sie
werden dann wenigstens mein Bestreben daraus erkennen, und ich werde mich durch niemanden von meiner Bahn abschrecken
lassen, welche nach meiner Meinung notwendig eingeslagen werden muss, um der Dummheit, die in dem Technischen der Malerei
jetzt existiert, von innen heraus entgegenzuwirken. Auch glaube ich nicht, dass es, um etwas Vollständigeres leisten zu
können, mir sehr an den nötigen chemischen wie mathematischen Kenntnissen fehlt; ich wünsche recht von ganzen Herzen, die
Gelegenheit zu erhalten, mir diese zu verschaffen.
Sollten Ihnen durch diese Ansichten einige Ding in den vier Tageszeiten deutlicher geworden sein, so hoffe ich, dieses
noch mehr zu erlangen, wenn ich Ihnen einst eine Skizze Ölfarben mitteilen könnte; woran ich nicht zweifle, aber hoffe, Sie
werden aus dem Vorstehenden gemerkt haben, wie etwas Illumiertes die Blätter demVerständnisse nicht näher bringen könne.-
Zu Ihrer Nachricht, dass dieselben nicht von mir radiert sind; der "Morgen" und der "Abend" sind in Dresden von Herrn
Seiffert und in den beiden anderen Figuren durch Herrn Krüger, die Nebensachen von Hern Darnstedt auf Kupfer gebracht. Da
ich meine Zeichnungen genau so mit der Feder gemacht hatte und sie diese mit dem Bleistifte nachzogen und dann auf die
Platten trugen, so war es möglich, sie so genau zu erhalten, obgleich doch sehr viel verlorengegangen, wie Sie selbst sehen
werden, da ich Ihnen die Zeichnungen gelegentlich zusende.
Ihr übriges Begehren von einigen Blumen und meiner Silhouette werde ich, sobald ich Zeit habe, zu befriedigen suchen,
wie es mir immer ein Vergnügen sein wird, Ihnen gefällig zu sein.
Meinen herzlichen Gruss bitte ich Herrn Regierungsrat Voigt und seiner Frau zu vermelden und empfehle mich Ihrer
Freundschaft ergebenst.
Philipp Otto Runge, Farbenkugel: Konstruktion des Verhältnisses aller Mischungen der Farben zueinander und ihrer vollständigen Affinität, [1810], Keulen 1999, blz.: 54/63.